16. Mai 2023

Digitaler Tutor hilft Null-Bock-Lesern

Grundschüler werden mit einer Online-Plattform gefördert, um ihre Leseschwäche zu überwinden

Bisher stand England schulmäßig für Eton College, Westminster School oder Charterhouse. Doch nun ist es den Schulen auf der Insel gelungen, den 4. Platz bei der Lese-Grundschul-Untersuchung zu erreichen. Die Briten fördern Hunderttausende von Schülerinnen und Schülern systematisch mit Tutoring-Programmen und einer nationalen Strategie im Umfang von drei Milliarden Pfund. Vielleicht wäre das auch keine schlechte Idee für den notorischen Pisa-Verlierer Deutschland. Zur Überraschung: Einen Ableger des digitale-analogen Programms „Tutoring for All“ gibt es hierzulande. Das Geheimnis des britischen Erfolgs: Auf der Insel gilt die 100-Prozent-Maxime. Alle Kinder sollen einen Mindeststandard beim Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen. Alle, ohne Ausnahme.

Erreicht wird dies unter anderem durch eine digital-analoge Leseförderung namens Tutoring for All (lesen mit dem Turbo-Team).

Turboteam: Schwache Leser holen in Ferien zwei Jahre auf

„Das ist keine Leseförderung, wie sie heute viel zu häufig ist: Irgendjemand macht mit irgendwem irgendwas“, sagt Ekkehard Thümler, der deutsche Adoptivvater des britischen Vorbilds.“ Tutoring for All ist ein systematischer, wissensbasierter digitaler Lese-Lernkurs, bei dem geschulte Tutoren besonders schwache Leser begleiten. “Thümler hat früher and der Universität Heidelberg die Wirksamkeit gemeinnütziger Organisationen erforscht.

Sümeyye Balci und die renommierte Didaktikerin Ingrid Gogolin haben das Tutor-Programm in deutscher Sprache inhaltlich völlig neu aufbereitet.

Das Tutoring-Tool konnte bei einem Testlauf nahe Frankfurt große Erfolge erzielen. Bei dem Experiment in den Ferien erwies sich eine Gruppe von Schülern als Nutznießer, die auch bei der neuerlichen IGLU-Studie die Sorgenkinder waren: Jungen, insbesondere Jungen mit Zuwanderungsgeschichte.

Die Fortschritte, die einige der teilnehmenden Schüler erzielten, waren so groß, dass Thümler selbst ins Grübeln geriet. Eigentlich war vorgesehen, dass das Programm eine halbe Stunde pro Tag läuft. Aber auch Jungen, die sonst keine Lust auf Lesen haben, spielten und lernten zwei Stunden täglich. Die Entwickler trauten ihren Augen nicht: Auf dem Dashboard des digitalen Lernprogramms sind Schüler eingetragen, die zwei Jahre Leseleistung aufgeholt haben sollen.

„Das muss erst noch wissenschaftlich validiert werden“, bremst Thümler. Allerdings: Dass Sommerschulen mit spielerischen Methoden Wirkung in wenigen Stunden Erfolg erzielen können, bewies die berühmte Jacobs-Summer-School für zugewanderte Kinder. Sie hatte 2005 nach dem ersten Leseschock Deutschlands unter Beobachtung von Petra Stanat große Leistungssprünge gezeigt. Stanat ist heute Chefevaluiererin der deutschen Schulen am Institut zur Qualitäts-Entwicklung im Bildungswesen.

Tutoring mit Computer: Lesepaten werden digitalisiert

„Tutoring for All“ funktioniert ein bisschen wie die gute alte Lesepatin, auch sie bekannt aus der Zeit, als Pisa hierzulande funktionale Analphabeten berühmt machte. Nur gehen diesmal nicht pensionierte Grundschullehrerinnen in die Krisenschulen in Wedding oder Wilhelmsburg, im Hasenbergl oder in Hemshof, wo 40 von 132 Grundschüler versetzungsgefährdet sind.

Diesmal kommt ein Leseprogramm in die Schule, das ein Mix aus Fibel und Game darstellt.

Die Nachhilfeschüler lernen die Buchstaben wie in der Fibel anhand von Geschichten – und kleinen Spielen. Zunächst lesen sie zum Beispiel die Story von dem Hasen, der rote Hosen liebt. Dann beantworten sie auf dem Computer dazu Fragen. Die klingen zwar ziemlich simpel, sind aber didaktisch genau auf die Geschichten abgestimmt. Im Dashboard des digitalen Turbo-Tutors können die Betreuer derweil wie durch ein Mikroskop verfolgen, wo der Schüler steht. Gleichzeitig spornt das digitale Tool die Lerner an: Wie bei echten Games können sie verschiedenen Levels erreichen.

Die Game-Anmutung motiviert offensichtlich – genau wie die Tatsache, dass das Lernprogramm nicht auf papiernen Fibeln, sondern am Tablet läuft. Immer zwei Schüler spielen im Tandem. Das halbstündige Üben in Gruppen von vier Kindern betreuen Tutoren. Das bedeutet, dass ein Tutorenprogramm für die Benachteiligten in Grundschulen zugleich eine Praxis- und Verdienstmöglichkeit für Studierende sein könnte.

Wollte Hamburg das Tutoren-Programm einsetzen, wären 100 Tutoren nötig. Im bevölkerungsreichsten Nordrhein-Westfalen bräuchte man 1.500 Tutoren. Für ganz Deutschland wären es bei 15.000 Grundschulen 7.500 Nachhilfelehrer, die das digitale Tutor-Programm begleiten. “Wir hoffen, Studierende durch den niedrigschwelligen Einstieg als Tutor:in für ein Lehramtsstudium begeistern zu können, sagt Thümler.

Milliarden-Förderung für sehr kleine Lesegruppen

Englands Tutoring-Programm setzt darauf, Gruppen von maximal sechs Schülern gezielt zu fördern. Alleine die Schulen haben dort ein Budget in Höhe von 600 Millionen Pfund für eigene Tutoren bekommen. Zusätzlich gibt es mit Randstad einen Tutorienanbieter für ganz England. Diese beiden Schienen des Tutoring-Programms haben geholfen, die Zahl der Risikoschüler zu minimieren. Anders als beim Pisa-Vorbild Finnland könnte man mit dem Bespiel Englands ein definiertes Erfolgstool für Risikoschüler kopieren. Und es wäre kein Geschäftsmodell.

Das Start-up, das Thümler gegründet hat, ist nämlich non profit. Es soll nicht pekuniär skalieren, sondern alle benachteiligte Schülerinnen und Schüler erreichen. Ekkehard Thümler ist ein Fan von 100-Prozent-Schulen. Laut dem jüngsten Chancenmonitor gilt die Methode des systematischen Nachhilfe-Lernens durch Tutoren als verlässliches Mittel, kein Kind zurückzulassen. Alle anderen Versuche seit Pisa haben nicht gefruchtet. Und inzwischen sind die Lehrerzimmer viel zu leer, als dass Grundschulen allein ihre Risikoschüler gut fördern könnten.

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